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Kleine Orgelgeschichte

Es ist doch ganz erstaunlich!

Das älteste Orgelgehäuse der Welt (1435) in Sitten(/Sion), Kanton Wallis, Schweiz
Das älteste Orgelgehäuse der Welt (1435) in Sitten(/Sion), Kanton Wallis, Schweiz

 

Die Grundidee bei der Erfindung der Orgel ist bereits derart komplex, dass man ganz klar von einer Ingenieursleistung sprechen kann. Die Orgel ist in ihrer Gesamtkonstruktion bis heute das komplexeste aller Instrumente. Und dennoch wurde dieses Instrument nicht in der Neuzeit erfunden, sondern in der vorchristlichen Antike. Der griechische Techniker Ktesebios aus Alexandria erfand im 3. Jahrhundert vor Christus die Hydraulis als erste Form der Orgel. Seine bahnbrechende Idee war die Kombination von drei neuartigen Prinzipien, die bis heute eine Orgel definieren:

  • Einzelpfeifen für verschiedene Tonhöhen
  • maschinelle Erzeugung von konstantem Luftdruck
  • mechanische Hebel (=Tasten) zum Spiel auf dem Instrument.

In römischer Zeit wurde die Orgel als rein weltliches Instrument in der Zirkusarena gespielt. Das Ende der antiken Welt überlebte die Orgel über das oströmische Reich in der Byzantinischen Kultur. Erst in der Zeit um 800 gelangten Orgeln in Form einzelner kaiserlicher Schenkungen wieder nach Westeuropa. Bis zum Ende des Mittelalters entwickelte sich die Orgel dann in rasanter Weise zum grundsätzlichen Bestandteil großer Kirchen, ja zum kirchlichen Instrument schlechthin.

Dabei kamen weitere Konstruktionsprinzipien hinzu, die bis heute gültig sind:

  • mehrere Klaviaturen
  • eine zusätzliche Klaviatur für die Füße: das Pedal
  • mehrere, separat schaltbare Pfeifenreihen pro Klaviatur (Register)
  • neue, unterschiedlichste Arten von Registern, die immer weiter vermehrt wurden.

So resümiert der Komponist und Musikgelehrte Michael Praetorius 1619 über die Orgel:

Ja dieses vielstimmige liebliche Werk begreift alles das in sich, was etwa in der Musik erdacht und komponieret werden kann und gibt so einen rechten natürlichen Klang, Laut und Ton von sich, nicht anders als ein ganzer Chor voller Musikanten, do mancherlei Melodeien von junger Knaben und großer Männer Stimmen gehöret werden. In Summa: die Orgel hat und begreift alle andere Instrumenta musica, groß und klein, wie die Namen haben mögen, alleine in sich. [...] Und die Wahrheit zu bekennen, so ist keine Kunst so hoch gestiegen, als eben die Orgelkunst.

Klaviaturen der gotischen Orgel (1361/1495) des Halberstädter Doms. Abgebildet bei Michael Praetorius 1619
Klaviaturen der gotischen Orgel (1361/1495) des Halberstädter Doms. Abgebildet bei Michael Praetorius 1619

Es ist wohl keine Überraschung, dass sich auch in den 400 Jahren nach Praetorius noch ungeheuer viele Erweiterungen und Veränderungen in der Kunst des Orgelbaus ergeben haben. So entwickelte sich in jeder größeren Kulturregion West- und Mitteleuropas eine eigenständige Orgellandschaft, und in jeder Generation veränderten sich deren ästhetische Prämissen wiederum ein wenig. Wir können diese vielen Orgellandschaften und -epochen heute gleichwertig betrachten. Die simple Erkenntnis, dass jede Musik auf den Instrumenten ihrer Zeit und Region am besten klingt, konnte sich in den letzten 100 Jahren allgemein durchsetzen und ermöglicht uns heute, die teilweise extremen Unterschiede zwischen verschiedenen Orgeltypen nicht als hinderlich zu sehen, sondern im Gegenteil als die zentrale Qualität der Orgelkunst.

Dr. Ulf Wellner

Die älteste Orgel der Welt (ca. 1425/30) in Ostönnen, NRW:

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